Fahrverbot trotz Eigenverletzung?
1. Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe das mit der Rechtsmitteleinlegung angebrachte Akteneinsichtsgesuch nicht beschieden, gefährdet den Bestand eines Urteils nicht, weil es auf dem behaupteten Verfahrensfehler nicht beruhen kann.
2. Kann der Rechtsmittelführer die Rechtsbeschwerde aus diesem Grund nicht ausreichend begründen, so hat er gegebenenfalls Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu beantragen.
3. Wurde der Betroffene bei der von ihm begangenen Ordnungswidrigkeit selbst erheblich verletzt, so hat sich das Tatgericht bei der Begründung des Fahrverbots trotz der Indizwirkung des Bußgeldkatalogs in aller Regel damit zu befassen und zu begründen, warum es dennoch der Denkzettel-, Besinnungs- und Warnfunktion der Nebenfolge bedarf.
Das Amtsgericht hat den nicht vorbelasteten Betroffenen wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO zu einer Geldbuße von 200 EUR verurteilt und unter Gewährung des Erstverbüßerprivilegs ein einmonatiges Fahrverbot festgesetzt. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Betroffene als Führer eines Motorrads mit einem Rettungswagen der Berliner Feuerwehr kollidierte, der sich zuvor „langsam mit eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn in die Kreuzung“ eingetastet hatte. Der Betroffene wurde hierbei selbst „erheblich verletzt“. Er erlitt einen Kreuzband- und einen Seitenbandabriss und war nach einer stationären Krankenhausbehandlung noch längere Zeit arbeitsunfähig. Das Amtsgericht hat wegen der „erheblichen Verletzungen“ nicht auf die Regelgeldbuße von 320 EUR erkannt. Bei der Begründung des Fahrverbots führt das Urteil aus, der Fall weise „keine wesentlichen Besonderheiten auf“, welche „die Verhängung eines Fahrverbots hier unangemessen erscheinen lassen.“ Auch der Betroffene habe nichts Derartiges eingewandt. Das KG hat auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Aus den Gründen:
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen bleibt in Bezug auf den Schuldspruch erfolglos, dringt aber mit der Sachrüge gegen den Rechtsfolgenausspruch durch.
1. Die gegen den Schuldspruch gerichtete Rechtsbeschwerde ist aus den in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Berlin genannten Gründen unbegründet im Sinne der §§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO. Der Schriftsatz des Verteidigers vom 28.7.2021 lag vor, gab aber zu einer anderen Bewertung keinen Anlass.
Der Erläuterung bedarf hier lediglich noch, dass das Urteil nicht darauf beruhen kann, dass das Amtsgericht das mit der Rechtsmitteleinlegung angebrachte Akteneinsichtsgesuch nicht beschieden hat. Die diesbezüglich erhobene Verfahrensrüge kann damit schon logisch nicht zum Erfolg führen.
Wenn der Rechtsmittelführer der Ansicht ist, er könne die Rechtsbeschwerde – unverschuldet – nicht ausreichend begründen, so hat er gegebenenfalls Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu stellen (vgl. OLG Jena VRS 122, 142; OLG Köln NStZ-RR 2015, 385; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.9.2011 – IV-3 RBs 133/11). Obwohl die Verteidigung zum Ergebnis kommt, „die Nichtübersendung des Hauptverhandlungsprotokolls“ diene „dem einzigen Zweck, der Verteidigung die Rechtsbeschwerde so gut wie unmöglich zu machen“, ist ein solcher Antrag nicht angebracht worden. Dass ein solches Gesuch erfolgreich gewesen wäre, ist allerdings auch fraglich. Denn ausweislich der Rechtsmittelbegründung hat die Verteidigung ihr Akteneinsichtsersuchen nicht wiederholt, und es wurde auch kein weiterer – z.B. telefonischer – Versuch unternommen, mit der Geschäftsstelle in Kontakt zu treten. Ohne dass es darauf ankäme, fehlt für den von der Rechtsbeschwerde dennoch konstatierten „beharrlichen“ und „systematischen Gesetzesverstoß“ jeder objektive Anhalt.
2. In Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch hat die Rechtsbeschwerde Erfolg.
Allerdings hat das Amtsgericht zunächst zutreffend erkannt, dass die Voraussetzungen für den vom Betroffenen an sich verwirkten Regelfall eines groben Pflichtenverstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 3 BKatV vorliegen. Jedoch folgt hieraus nicht, dass unbedingt ein Fahrverbot zu verhängen wäre. Vielmehr steht dem Tatrichter auch in den Regelfällen des § 4 Abs. 1 BKatV ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begegnen (BVerfG NJW 1996, 1809; OLG Bamberg VRS 114, 379). Denn die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen besondere Umstände ergibt, nach denen es ausnahmsweise der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots im Einzelfall nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Die tatrichterliche Entscheidung wird vom Rechtsbeschwerdegericht deshalb nur daraufhin überprüft, ob das Tatgericht sein Ermessen deshalb fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt, die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten oder sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat.
Hier wird nicht ersichtlich, dass das Amtsgericht bei der Ausübung des ihm zustehenden Ermessens die tragenden Gesichtspunkte berücksichtigt hat. Namentlich wäre bei der Begründung des Fahrverbots zu erörtern gewesen, ob die erheblichen Verletzungen, welche der Betroffene bei seiner Ordnungswidrigkeit erlitten hat, ihn bereits ausreichend zur Besinnung gebracht und gewarnt haben. Das Amtsgericht hat diesen Umstand bei der Bemessung der Geldbuße berücksichtigt, nicht aber bei der Frage, ob auf das an sich indizierte Fahrverbot ausnahmsweise verzichtet werden kann, weil der Betroffene durch die unmittelbaren und schweren Folgen seiner Fahrlässigkeitstat ausreichend beeindruckt ist.
Es kann hier offenbleiben, ob das Fahrverbotserkenntnis rechtsbeschwerderechtlich Bestand gehabt hätte, wenn das Amtsgericht diese Überlegung erkennbar in seine Ermessensentscheidung eingestellt und gegebenenfalls kurz erörtert hätte. Dies liegt aber nahe, denn das Rechtsbeschwerdegericht hat die Ermessensentscheidung bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen (vgl. OLG Hamm DAR 2021, 477; Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen 4. Aufl., § 6 Rn 203). Dass der Fall, wie die Tatrichterin ausdrücklich im Zusammenhang mit der Besinnungs- und Denkzettelfunktion des Fahrverbots ausführt, „keine wesentlichen Besonderheiten“ aufweise, kann der Senat aber nicht nachvollziehen und bewertet es als ermessensfehlerhaft.
3. Wegen der zwischen der Geldbuße und dem Fahrverbot bestehenden Wechselwirkung war der Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufzuheben.